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Rezension: Etwas mehr Hirn, bitte- Gerald Hüther- Vandenhoeck & Ruprecht

Der Autor dieses Buches ist Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. habil. Gerald Hüther. Er ist Neurobiologe an der Universität Göttingen. Sein wissenschaftliches Interesse gilt dem Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung, mit den Auswirkungen von Angst und Stress sowie der Bedeutung emotionaler Reaktionen. 

Sein Augenmerk gilt der Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Entfaltung der in jedem Menschen angelegten Potentiale. Sein Buch ist "eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten". 

Das überaus spannend zu lesende Werk ist in drei große Teile untergliedert: 

Teil 1: Das Leben als erkenntnisgewinnender Prozess 
Teil 2: Die Strukturierung des menschlichen Gehirns durch soziale Erfahrungen 
Teil 3: Potentialentfaltung in menschlichen Gemeinschaften

In der Einleitung packten mich die Sätze: "Die Freude am Selber-Denken und am gemeinsamen Gestalten verschwindet bei keinem Menschen von allein. Sie kann nur durch leidvolle Beziehungserfahrungen verloren gehen." Die gute Nachricht dann: "Aber jeder Mensch kann sie wiederentdecken, selbst dann, wenn er schon alt geworden ist.." Voraussetzung sind neue Erfahrungen.

Was nun hat dies alles mit Biologie zu tun? 

Hüther schreibt über Prozesse, die im Hirn stattfinden, erwähnt neu entstehende Nervenzellenverknüpfungen und fragt,  woran sich unser Denken orientiert. Soviel nur: an anderen Menschen und wenn diese Menschen neugierige Kinder demotivieren, dann wird deren Lust am eigenen Denken verdorben, dann gibt es keine neuen Erfahrungen, keine neuen Erkenntnisse und keine neuen Nervenzellenverknüpfungen. 

Hüther erläutert, was unsere Suche nach Erkenntnis antreibt und schreibt auch darüber, wie wir reagieren, wenn wir in Gefahr geraten und weshalb wir dann auf unsere Instinktprogramme zurückgreifen. Sobald sich Angst in uns ausbreitet, können wir übrigens keine angemessenen und tragfähigen Lösungen zur Überwindung von Bedrohungen oder Abwehr von Gefahren entwickeln. 

Besonders kreativ ist nach Hüther ein Mensch dann, wenn er keine Angst mehr hat. Dann nämlich erkundet man spielerisch, was möglich ist, "was man sich so alles ausdenken, was man machen und was man dabei alles lernen kann." 

Um Probleme zu lösen, muss man Angst überwinden und das geschieht am besten, in Gemeinschaften, in denen man sich geborgen fühlt. Wer sein Hirn primär dazu nutzt – aus Angst vor dem Du- sich abzugrenzen oder seine Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen, wird keine großen Erkenntnisse erlangen, wird sich geistig nicht nennenswert weiterentwickeln. 

Der Autor verdeutlicht,  wie man zur eigenen Erkenntnis gelangt. Sofern dies durch Nachdenken geschieht, sind die im Gehirn ablaufenden Vorgänge andere wie jene, die im Zuge von einfachen Lernprozessen angeeigneten Wissensinhalten geschehen. Hüther thematisiert auch,  an welchen Erkenntnissen wir uns orientieren können und zeigt vier Grundüberzeugungen auf, die unser eigenes Selbstverständnis und unsere eigenen Beziehungen zu anderen Lebewesen gegenwärtig noch bestimmen. 

In diesem Zusammenhang unterstreicht er, dass Lebewesen keine Maschinen sind, denn sie sind fähig stets dann, wenn es zu einer Störung des inneren Beziehungsgefüges kommt, diese fast immer aus sich selbst heraus beheben. Das gelte für die einzelne Zelle und für alle lebenden Systeme. 

Es sind innere Muster, die für den Zusammenhalt eines Sozialgebildes sorgen und die ständig weiterentwickelt werden. Hüther erläutert, weshalb Wettbewerb nicht die Triebfeder von Weiterentwicklung ist, sondern lebende Systeme nur zur fortschreitenden Entwicklung zwinge. Allerdings gibt es neben Wettbewerb noch eine zweite Strategie zur Problembewältigung: Alle Lebensformen sind, so Hüther,  in der Lage,  in ihrem Inneren Potentiale anzulegen und bereitzuhalten, die zunächst keine praktische Bedeutung für die Lebensbewältigung haben. Diese inneren Potentiale bieten Schutz vor Hunger, Not, Elend, Selektionsdruck und Leistungszwang, weil das Gehirn nicht nur eine Kümmerversion dessen ist, wozu es wird, wenn keine Potentiale angelegt sind, mittels derer man Probleme lösen kann. 

Falls es sich noch nicht herumgesprochen hat: "Kein lebendes System existiert für sich allein. Es ist immer mit anderen Lebensformen verbunden und kann nur leben und sich weiterentwickeln inmitten von anderen, die auch am Leben bleiben, wachsen und sich fortpflanzen wollen.".

Weil das so ist und weil eine gewisse Anpassung notwendig ist, kann sich das angelegte Potential niemals vollständig entfalten. Hüther nennt Bedingungen, die ungünstig zur Potentialentfaltung sind und zeigt,   wann Lebensformen ihre ursprüngliche Entwicklungsdynamik verlieren und unflexibel werden, doch er erläutert auch jene Strategie, die zum Gegenteil führt.

Im zweiten Teil des Buches erfährt man zunächst, was man unter Kohärenz zu verstehen hat. Es ist der Zustand, der Annäherung an den Zustand des Gleichgewichts im Gehirn, wo alles relativ störungsfrei, ohne große innere Konflikte und Widersprüche abläuft. 

Es gibt eine einfache Lösung, um Kohärenz zu erlangen und diese ist Ignoranz (Verdrängung). Auf diese Weise arbeitet das Gehirn im Energiesparmodus. Doch das geschieht nur eine begrenzte Zeit. Besser aber ist es, über wirkliche Problemlösungen nachzudenken. Man erfährt in der Folge mehr zur vorgeburtlichen Strukturierung neuronaler Netzwerke im sich entwickelnden Gehirn. Lernen und Sich- Entwickeln sind voneinander nicht trennbar. Schon vorgeburtlich gibt es Bedingungen und Faktoren, die die Entwicklung fördern oder behindern. 

Im Rahmen der Überlegungen zur Strukturierung des kindlichen Gehirns durch eigene Erfahrungen erfährt man, dass sicher  in Gemeinschaften  eingebundene Kinder sehr aufmerksam und interessiert die kleinen und großen Dinge um sich herum entdecken und studieren, weil sie die Gewissheit haben, dass ihnen ihm Notfall geholfen wird. Ein Kind braucht ein Umfeld, dem es vertrauen kann, um sich zu entwickeln. Man muss ihm das Gefühl geben, wichtig zu sein. Kinder, die ihr angeborenes Grundbedürfnis nach Wachstum, Autonomie und Freiheit nicht stillen können, haben später ein Problem. 

Kinder, die von ihrem Umfeld nicht gesehen werden, übernehmen bereitwilliger die Vorstellung von anderen, so Hüther, um dazu zu gehören. Auf diese Weise verlieren sie die Freude am eigenen Denken. 

Man erfährt in der Folge mehr über die Strukturierung des menschlichen Gehirn durch die transgenerationale Weitergabe von Erfahrung und auch, worauf es wirklich ankommt: "Auf Vertrauen, auf wechselseitige Anerkennung und Wertschätzung, auf das Gefühl und auf das Wissen, aufeinander angewiesen, voneinander abhängig und füreinander verantwortlich zu sein." 

Ich stimme mit Prof. Hüther überein, dass es darauf ankommt, dass jeder seine Begabungen entfalten kann, um so zum kollektiven Potential beizutragen. Wie der Autor in diesem Zusammenhang hervorhebt,  bedeutet kreativ sein "nicht in erster Linie, Neues zu erfinden, sondern das bereits vorhandene, aber bisher voneinander getrennte Wissen auf neue Weise miteinander zu verbinden." 

Wer aus dem Kreislauf von Krisen herauskommen will, sollte sich in Transformation üben, denn sie bilden die Lösung für dieses Dilemma. Eine gute Nachricht ist es, dass mittels neuer Erfahrungen einmal entstandene neuronale Verschaltungsmuster umgebaut werden können und zwar zeitlebens. 

Im dritten Teil dieses erkenntnisreichen Buchs geht es um die Potentialentfaltung in menschlichen Gemeinschaften. Hier gilt es festzuhalten, dass das Gehirn ein soziales Konstrukt ist. Potentialentfaltung gelingt, wenn man einen neuen Weg beschreitet, in dem Subjekt-Subjekt-Beziehungen  gelebt werden. Sie verhelfen zur Wiederentdeckung der Lust am eigenen Denken und gemeinsamen Gestalten. Notwendig ist ein Transformationsprozess in Wirtschaft und Gesellschaft, weg vom Gegeneinander, hin zum Miteinander. 

Was mir das Buch verdeutlicht hat? Eine gut funktionierende Leistungsgesellschaft in der Zukunft beruht nicht auf Wettbewerb, sondern auf Potentialentfaltung vieler für eine Gemeinschaft glücklicher Menschen. Selbstdenken macht glücklich!

Sehr empfehlenswert. 

Helga König

Bitte klicken Sie auf den Link, dann gelangen Sie zum Verlag und können dort das Buch direkt bestellen. Sie können es jedoch auch bei Ihrem Buchhändler um die Ecke ordern.

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